Aufruf zum Frieden ‒ ein offener Brief
02.04.2022
Liebe Menschheitsfamilie,
täglich verfolgen wir die Tragödie des Krieges in der Ukraine, und wir öffnen unsere Herzen für das Leiden der Menschen, der jungen wie der alten. Als Internationale Gemeinschaft für Engagierten Buddhismus in der Tradition von Plum Village beobachten wir den Krieg mit Schmerz und mit Sorge.
In unserer buddhistischen Gemeinschaft lauschen wir jedes Jahr zu Weihnachten mit großer Freude dem Klang der russischen Kirchenglocken, und wir öffnen unsere Herzen für das reiche spirituelle Erbe Russlands und Europas. Unser Lehrer, der ehrwürdige vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh, hat gesagt: „Eine Glocke ist immer eine Glocke; ob sie nun katholisch, protestantisch, orthodox oder buddhistisch ist, sie ist immer eine Glocke.“ Wenn wir der Glocke lauschen, können wir unabhängig von unseren kulturellen oder religiösen Wurzeln tiefem Frieden begegnen und eine gemeinsame spirituelle Dimension berühren. Wir alle sehnen uns nach Frieden. Wir alle brauchen Frieden.
Die Wurzeln unserer Gemeinschaft liegen in der Tradition des Engagierten Buddhismus in Vietnam, wo mehr als drei Millionen Menschen in einem fast 20 Jahre dauernden Krieg starben und etwa zwei Millionen aus dem Land geflohen sind. Von unserem Lehrer wissen wir, dass Krieg niemals eine Lösung ist. Er führt nur zu Spaltung und Hass, die über Generationen hinweg andauern können.
Unser Lehrer setzte sich unermüdlich für den Frieden in Vietnam ein, indem er sich nie auf nur eine Seite stellte. Stattdessen appellierte er an die Gegner, sich tief in den Schmerz, die Not und die Existenzangst des anderen hineinzuversetzen und den schrecklichen Tribut des Krieges für alle Opfer zu bedenken. Ins Exil gezwungen, wurde er zum geistigen Führer einer weltweiten Bewegung für Frieden, Versöhnung und Abrüstung.
Wir glauben, dass die universelle Friedensbotschaft unseres Lehrers in dieser für die Ukraine, für Russland und für die gesamte Menschheit so wichtigen Zeit Hoffnung spenden kann. Die Geschichte zeigt uns, dass Krieg in Frieden umgewandelt werden kann. Überlebende können trotz ihrer Verletzungen Heilung erfahren. Im Namen unseres Lehrers Thich Nhat Hanh und seiner großen Liebe, seines Mitgefühls und seiner Weisheit rufen wir, seine Schüler, zu einem sofortigen Waffenstillstand auf, um das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden. Wir senden den Unterhändlern auf beiden Seiten unsere Liebe und Unterstützung. Mögen sie einander gut zuhören und die Voraussetzungen für Frieden schaffen.
Der Buddha sagt uns, dass unser wahrer Feind nicht in anderen zu finden ist, sondern in unserer eigenen Furcht, Angst und Sorge, unserem Zorn, unserer Gier, unserer Unwissenheit und unserem Hass. Krieg wird durch dualistisches und diskriminierendes Denken ermöglicht und durch die Vorstellung, dass wir nur dann Frieden und Sicherheit haben können, wenn wir unseren sogenannten Feind ausschalten. Aber wie der Buddha sagte, kann Hass niemals den Hass auflösen. Nur Verständnis und Liebe können den Hass überwinden.
Wie unser Lehrer gesagt hat, wird es Frieden in der Welt geben, wenn wir in uns selbst Frieden haben. Wenn es uns gelingt, den Krieg in der Ukraine zu beenden und einen dauerhaften Frieden zu erreichen, wird die ganze Welt davon profitieren, denn als Menschheitsfamilie sind wir miteinander verbunden und voneinander abhängig. Wir beten auch dafür, dass die wertvollen globalen Ressourcen nicht länger für den Krieg eingesetzt werden, sondern dorthin umgeleitet werden können, wo sie am dringendsten gebraucht werden, nämlich zur Bekämpfung von Krankheiten, Armut, Hunger und Unterernährung, Menschenhandel ‒ einschließlich der Ausbeutung von wehrlosen Kindern ‒, Umweltbelastungen und Klimawandel.
Unsere Welt braucht eine Kultur des Friedens. Unsere Menschheitsfamilie muss dringend auf eine höhere Evolutionsstufe gelangen, zu einer „kosmischen“ Spiritualität und Ethik finden, die alle Völker und Nationen vereinen sowie Trennung und Diskriminierung beseitigen kann. In diesem Sinne haben wir als Gemeinschaft des Engagierten Buddhismus in der Silvesternacht 2021 unsere Verpflichtung erneuert, Achtsamkeit für den Frieden auf der Erde zu praktizieren. Im Folgenden teilen wir mit all unserer Liebe dieses feierliche Gelöbnis.
Das Werk des Friedens ist ein Werk menschlicher Größe und menschlichen Edelmuts. Als Menschheitsfamilie ist es unsere vordringlichste Aufgabe, um des ukrainischen Volkes, des russischen Volkes und der Soldaten auf beiden Seiten willen all unsere Energie und unser ganzes Können einzusetzen, um jede praktikable Option für den Frieden in dieser Zeit großer Gefahr für die Menschheit auszuloten.
Alle unsere Vorfahren und Nachkommen zählen auf uns.
Mit Liebe und Vertrauen,
Bhikkhu Thích Chân Pháp Ấn
Älterer Mönch der Gemeinschaft von Plum Village
Bhikkhuni Thích Nữ Chân Không
Ältere Nonne der Gemeinschaft von PlumVillage
Eine Kultur des Friedens schaffen
Verpflichtung und Gebet unserer Gemeinschaft am Silvesterabend 2021
Geliebte Ahnen, geliebte Mutter Erde,
in den letzten zwei Jahren haben Ungewissheit, Furcht und Verlust, die durch die COVID-19-Pandemie entstanden sind, den Grad an Angst, Wut und Gewalt in unserer menschlichen Familie ansteigen lassen. In Anbetracht der Möglichkeit, dass solches Leid und solche Gewalt sich in noch größerem Ausmaß ausbreiten könnten, verpflichten wir uns erneut, den Frieden in uns selbst und in der Welt zu kultivieren. Im Geiste von Buddhas Einsicht in die Edle Wahrheit des Leidens streben wir danach, das folgende Achtsam-keitstraining für den Frieden auf der Erde zu praktizieren.
Achtsamkeitstraining für den Frieden auf der Erde
Wir sind uns des Leidens bewusst, das dadurch entsteht, dass unsere menschliche Familie in der Lage ist, sich selbst zu zerstören und ‒ durch unbedachte oder rücksichtslose Handlungen ‒ alles Leben auf der Erde auszulöschen, und wir sind entschlossen, eine Kultur der Ehrfurcht vor dem heiligen Geflecht des Lebens, das uns erhält, zu pflegen. Dies werden wir tun, indem wir uns gemeinsam verpflichten, Achtsamkeit zu praktizieren und ein Leben der Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit zu führen, das auf unserer Einsicht in die Verbundenheit, die gegenseitige Abhängigkeit und das Inter-Sein aller Lebensformen auf der Erde beruht.
Wir werden dies kollektiv (wie auch individuell) so praktizieren, dass alle Handlungen und Verhaltensweisen, die zur Zerstörung unserer menschlichen Familie, anderer Arten aus dem Tier- und Pflanzenreich und unseres Planeten beitragen, ein Ende finden. Zu diesen zerstörerischen Handlungen gehören die Entwicklung und Produktion von Rüstungsgütern, etwa nuklearen und biochemischen Waffen, sowie neuester Technologien zur Kriegsführung im Cyberspace und im Weltraum. Zu den zerstörerischen Handlungen, denen wir ein Ende setzen wollen, gehört auch der Missbrauch sozialer Medien und anderer Kommunikationsmittel zur Manipulation des menschlichen Verstandes und der Emotionen in einer Weise, die Verwirrung, Misstrauen, Wut, Hass und Gewalt innerhalb unserer menschlichen Familie sowie Grausamkeit gegenüber anderen Spezies aus dem Tier- und Pflanzenreich erzeugt.
Wir werden die kollektive Energie, den materiellen Reichtum und die spirituellen Ressourcen der Menschheit auf positive, heilsame Handlungen hinlenken, die den Menschen helfen, einander kennenzulernen, zu verstehen und zu vertrauen und die unsere Existenz als eine menschliche Familie unter vielen Arten nähren und unsere heilige Mutter Erde schützen.
Mit Offenheit und Bescheidenheit werden wir lernen, einander kulturell, politisch und sozial gleichberechtigt zu begegnen. Wir werden die Vielfalt der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, des Alters und der religiösen oder anderen Überzeugungen respektieren, damit wir auf der Erde eine Menschheitsfamilie aufbauen und pflegen können, die mit sich selbst, mit allen Lebewesen und mit dem Planeten im Frieden ist.